Im Jahre 1809 entstand die Karte des damaligen »Geheimen Staatsrats und Vize-Generalpostmeisters Nagler«, des späteren Generalpostmeisters, Staatsministers und Bundestagsgesandten Karl Ferdinand Friedrich von Nagler (1770-1846). Seine politische Tätigkeit wird verschieden beurteilt, seine großen Verdienste um das preußische Postwesen sind aber unbestritten und werden auch durch die Tatsache nicht geschmälert, dass er die Bedeutung der Erfindung der Eisenbahnen, die er als alter Mann noch miterlebte, nicht mehr zu erkennen vermochte.

Abb. 287. Besuchskarte des Berliner Arztes Dr. Burtz, Kupferstich (Sammlung Dr. Wähmer)
Wohl die schönste und bekannteste unter den Boltschen Besuchskarten ist die für „Madame Schadow“, die Gattin des großen Bildhauers (Nr. 84 des gedruckten Verzeichnisses, Abb. 281). Hier hat Bolt eine Anmut und Liebenswürdigkeit entfaltet, wie wir sie bei ihm selten finden; man hat die Empfindung, dass es sich nicht um einen gleichgültigen Auftrag gehandelt hat, sondern dass er mit dem ganzen Herzen bei der Sache war. Und so war es in der Tat! Gehörte Bolt doch zu den Intimen des Schadowschen Hauses. In einem Briefe, den Schadow 1791 aus Stockholm an seine Gattin richtet, läßt er Bolt grüssen und fügt hinzu, es sei ihm lieb, dass er noch immer »ami da la maison« sei (abgedruckt bei Friedländer, Schadow, II. Aufl., S. 30). Die Im folgenden Jahre gestochene Karte der „Madame Schadow“ wird Ihr der Künstler gewiß als Zeichen der Verehrung gewidmet haben. Das Blatt bat schon zur Zelt seiner Entstehung großen Beifall gefunden; das beweist am besten die Tatsache, dass es In Süddeutschland als Freundschafts- und Wunschkarte mit der Inschrift „Denkmal der Erinnerung an die glücklichen Stunden der Vergangenheit“ plagiiert worden ist, wie Pazaurek in den Mitteilungen des Württembergischen Kunstgewerbevereins (Jahrgang 1907/8, S. 70) mitgeteilt hat. Möglicherweise bat diese Karte seiner Gattin Gottfried Schadow die Anregung zur Anfertigung seiner beiden eigenen Besuchskarten gegeben. Die eine (Abb. 283) zeigt das Bildnis des Künstlers, die andere drei unbekleidete weibliche Gestalten, die auf einem Steinblock sitzen, vielleicht die drei Grazien, vielleicht auch die Vertreterinnen von Malerei, Bildhauerei und Baukunst (Abb. 282).
Wann die Blätter entstanden sind, läßt sich nicht genau feststellen; am 1. Januar 1799 war jedenfalls die sogenannte Grazienkarte schon vorhanden, wie aus der handschriftlichen Angabe dieses Datums auf einem Abdruck des Berliner Kupferstichkabinetts hervorgeht. Daran, dass der Entwurf der Blätter auf Schadow selbst zurückgeht, kann wohl nicht der geringste Zweifel bestehen; fraglich kann höchstens sein, ob etwa die Übertragung auf die Kupferplatte von Bolt bewirkt ist.

Abb. 288. Besuchskarte des Kapellmeisters B. A. Weber, Holzschnitt von F. W. Gubitz (Sammlung von Zur Westen)
Dafür könnte angeführt werden, dass die sogenannte Graziengruppe auf einer 1798 entstandenen unzweifelhaften Arbeit Bolts, der Darstellung einer reich verzierten Leier, wiederkehrt; auf dem Steinblock ist hier an Stelle des Schadowschen Namens der Goethes angebracht. Während aber dieses Blatt in dem vorhin erwähnten handschriftlichen Verzeichnis unter Nr. 236 als die »Leier« aufgeführt ist, wird dort keine der beiden Schadowschen Karten genannt. Dazu kommt, dass Schadow damals noch große Fertigkeit im Gebrauch der Radiernadel und daher durchaus nicht nötig hatte, sich fremder Hilfe zu bedienen. Ist doch 1794 die prächtige Radierung des Zietendenkmals, sind doch 1796 die berühmten Viganoblätter entstanden! Übrigens hat auch Friedländer die Grazienkarte als eigenhändige Radierung des Meisters angesehen (Fr. S. 149, Nr. 27), allerdings nicht auch die Porträtkarte (Anhang IVa, Nr. 1, S. 167). Vier Jahrzehnte später, als Schadow alt und gravitätisch geworden war, bediente er sich einer Besuchskarte von riesigem Format. In einem steifen Rahmen liest man vor einer strahlenden Sonne: »Dr. G. Schadow, Direktor der Königl. Akademie der Künste zu Berlin.« Es ist eine saubere Graveurarbeit langweiligster Art. Sicherlich wird es in Berlin in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine sehr viel größere Zahl persönlicher Besuchskarten von künstlerischem Interesse gegeben haben, als ich bisher aufgeführt habe, aber leider kann ich dieser Liste nur wenige Ergänzungen hinzufügen. Man hat die Karten eben nur dann gesammelt, wenn sie von einem bekannteren Stecher herrührten; die Mehrzahl der übrigen ist spurlos verschwunden. Von den wenigen erhaltenen nenne ich die Karte des feuchtfröhlichen Komponisten Friedrich Heinrich Himmel (1765-1814), »Maitre de Chapelle de S. M. le Roy de Prusse« (Abb. 286), von dessen Werken das Singspiel »Fanchon, das Leiermädchen« das bekannteste ist. Seine hübsche Karte mit einer rosenumkränzten Leier ist wahrscheinlich ein Plagiat; denn sie stimmt bis auf den Namen genau mit der Karte eines gewissen Paul Wranitzky überein, wie Pazaurek festgestellt hat (a. a. O. S. 58).

Abb. 289. Besuchskarte des Bankiers Mendel, Holzschnitt von F. W. Gubitz (Sammlung von Zur Westen)
Erwähnt sei ferner die Karte Jean Godets (1732 bis 1896), des Gründers eines Juweliergeschäftes, das vor einigen Jahren die Feier seines 150-jährigenBestehens begangen hat. Als »Marchand orfevre a la Franchise du Chateau« bezeichnet ihn seine Karte (Abb. 284). Dort, im Hause Schloßfreiheit Nr. 4, hat er 1761 sein Geschäft begründet, und dort hat es sich bis zu der im Jahre 1893 erfolgten Niederlegung dieser Straße befunden. Die Karte trägt die Signatur „Schmidt“, rührt also von Joh. Gottlieb Schmidt sen. oder Friedrich Wilhelm Schmidt jun. her, die, wohl jedenfalls Vater und Sohn, ursprünglich zusammen arbeiteten. Später trennten sie sich, blieben aber beide in der Breiten Straße wohnen und scheinen sich erhebliche Konkurrenz gemacht zuhaben wenigstens findet man in der Vossischen Zeitung bereits in den achtziger Jahren Anzeigen , in denen die beiderseitigen Wohnungen mit auffallender Genauigkeit beschrieben werden, offenbar um unliebsame Verwechslungen zu vermelden. Hätte es damals bereits Hausnummern gegeben, so würde der heute übliche Zusatz „Man wolle genau auf die Hausnummer achten“ gewiss nicht gefehlt haben. Abgesehen von den in Prägedruck ausgeführten Karten haben wir es bisher durchweg mit Kupferstichen und Radierungen zu tun gehabt. Der künstlerisch tief darniederliegende Holzschnitt wurde im 18. Jahrhundert zur Herstellung von Besuchskarten so gut wie gar nicht verwendet. Erst Friedrich Wilhelm Gubitz (1786-1870), einer der Männer, die sich um die Wiedererweckung der deutschen Holzschneidekunst wohlverdient gemacht haben, hat eine größere Anzahl von Besuchskarten in Holzschnitt ausgeführt, und zwar meist zweifarbig. Er war als sehr junger Mann im Jahre 1805 nach dem Tod. Johann Friedrich Gottlieb Ungers Professor der Holzschneidekunst an der Berliner Kunstakademie geworden, und man wird kaum in der Annahme fehlgehen, dass seine sämtlichen Besuchskarten in dem ersten Jahrzehnt nach seiner Anstellung entstanden sind.

Abb. 290. Besuchskarte des Kupferstechers Rahl, Kupferstich von ihm selbst (Sammlung von Zur Westen)
Von einigen ist es nachweisbar, und die übrigen sind zu gleichartig in ihrem ganzen Charakter, als dass man an eine andere Entstehungszeit glauben könnte. Ihr Hauptwert liegt im Technischen, in der Wiederbelebung des alten Clair-obscur-Schnittes; ihre Ornamentik wirkt etwas schwerfällig und Ist In der Erfindung ziemlich dürftig. Das gilt z. B. von den beiden Karten des regierenden Herzogs Karl von Mecklenburg-Strelitz, des Vaters der Königin Luise, und von der eines ihrer Brüder, des später in Berlin so bitter gehaßten Herzogs Karl, der in der Literaturgeschichte: als erster Darsteller des Goetheschen Mephistopheles bei der berühmten, vom Fürsten Radziwill veranstalteten Aufführung fortlebt (Abb. 291). Da der erstere auf den Karten als »duc régnant« bezeichnet wird, müssen sie vor dem Jahre 1815 gefertigt sein, in dem er den Titel »Großherzog« annahm. Eine ähnliche Karte schnitt Gubitz für seinen Gönner Julius Reimann, den Erzieher des Prinzen Friedrich von Preußen und späteren Geheimrat, dessen einflußreichen Beziehungen und dessen Begeisterung für den Holzschnitt Gubitz vor allem seine erstaunlich schnelle Laufbahn verdankte. Der Buchhändler Friedrich Maurer ließ sich zwei verschiedene Karten herstellen, eine ornamentale und eine mit einem Merkur und einer Landschaft; Bücher, Globus und Musikinstrumente deuten in beiden Blättern auf Beruf und musikalische Neigungen des Besitzers hin.

Abb. 291. Besuchskarte des Prinzen Karl von Mecklenburg, Holzschnitt von F. W. Gubitz (Sammlung von Zur Westen)
Auch Maurers Gattin Amalie, geb. Wohlgemuth, besaß eine Gubitzsche Besuchskarte. Noch zwei andere Buchhändler sind vertreten: H. Gräff (Leipzig), einer der frühesten Auftraggeber des Künstlers, mit vier Karten und Hartknoch mit einem Blatte. Ferner finden wir ein bekanntes Mitglied des musikalischen Berlins, den Kapellmeister und Komponisten Bernhard Anselm Weber (1766 bis 1821), dessen Musiken zu Schillers „Tell“ und Braut von „Messina“ noch heute nicht vergessen sind (Abb. 288). Weiter kann ich noch folgende von Gubitz mit Karten versehene Personen aufführen: den Kammerherrn Freiherr von Weiher und Nimptsch, auf dessen Karte natürlich ein romantischer „Weiher“ abgebildet ist, den Kaufmann S. F. Winkelsesser in Stettin, J. A. Stenzinger, den Bankier Mendel und seine Frau (Abb. 289), E. N. Wolter, der nach der Darstellung auf seinem Blatte in Riga ein schönes Landhaus besessen haben muß, J. S. Feldtheim, Entrepreneur der Hauptniederlage des Berliner Steinguts, und Madame Severin née Bethge. Außerdem sind einige Rahmenkarten ohne Namen erhalten. Sehr einfach, aber recht geschmackvoll ist die eigene Karte des Künstlers. Sie zeigt lediglich seinen Namen, und zwar in weißen Buchstaben auf hellblauem Grunde. Ähnlich sind die Karten des Buchhalters J. L. Wagner, Leipziger Straße 68, und der Schulvorsteherin M. H- Bock.